wahr.haft.ich. (2005)

Ein musiktheatralischer
Essay über A.Dürer’s
„Melencolia I“
für 16 Darsteller (9 D, 7H),  ein Kind und ein männliches Wesen und zehn Instrumentalisten. (Englischhorn. Klarinette/Baßklarinette, Horn, Schlagwerk (2), und Streichquintett)
Ein Auftragswerk des SWR
UA 11. Februar 2006 im Rahmen des eclat-Festival Stuttgart

Im Zentrum des „Librettos“ stehen Zitate aus dem Werk Albrecht Dürers, Dichtungen  von Hölderlin (insbesondere seine Ode „Jupiter und Saturn – oder: Kunst und Natur“,  sowie Fundstücke, Dokumente und eigene Texte, die gewonnen sind aus dem Studium von Krankenakten von Euthanasieopfern der Vernichtungsanstalt Hadamar.
Wie der Titel es andeutet,  gliedert sich das Werk in drei Abschnitte.  Der erste Teil handelt allgemein vom  Vermessen und Vermessenheit, der zweite Teil bringt die Opfer des Vermessens, die als lebensunwert Ausgegliederten zur Sprache, und im dritten Teil geht es um die Kritik des Vermessens von Kunst mit dem Maßstab kommerzieller Erwägungen und Techniken.

Die musikalische Sprache folgt keiner Regelhaftigkeit, weder einer selbstgewählten oder einer solchen, die sich  einer bestimmten Schule zuordnen ließe. Vor ihr ließe sich bestenfalls sagen, daß sie, dem Rat des hellsichtigen Hölderlin folgend, auf den  Wechsel der „Töne“, baut, und  Gegensätzliches, das harmonische aufeinander bezogen ist, zu einer musikalischen Sprache synthetisiert. In ihr ist freie Atonalität mit funktionaler Tonalität ebenso verwoben, wie Geräuschhaftes mit  schlichten melodischen Modellen.


Presse


Gerhard Rohde in der FAZ vom 15. Februar 2006:

Der Komponist Wolfgang Florey (Jahrgang 1945) ließ sich von Dürers „Melencolia“ zu einem „musiktheatralischen Essay“ inspirieren, der sich das Ziel setzt, mit musikalischen und theatralischen Ausdrucksmitteln Dürers Bild zu „erforschen“, es dabei weniger wie ein Wissenschaftler akribisch auszudeuten, als vielmehr die Bildelemente und deren Verweise in ein aktuelles Theaterstück zu übersetzen.

Florey schaut mit seinem Werk, das er anspielungsreich „Wahr.Haft.Ich.“ betitelt, in der gleichen stillen Intensität und Resignation wie Dürers Engel auf unsere Zeit. Viele Texte, unter andere von Hölderlin, Hesiod, Dürer selbst sowie Dokumentarisches aus den Euthanasie-Programmen des Dritten Reiches, erweitern die Ausdrucksmittel. Auf der Bühne agieren sechzehn Darsteller, ein Kind, ein männlicher Spieler, sowie seitlich auf Podien, die Instrumentalisten des Ensemble Phoenix Basel. Die Assoziation „Nazi-Irrenanstalt“ stellt sich sofort ein: Ärzte in weißen Kitteln schwadronieren, eine verkrüppelte Person wird rausgeschoben, ein Behinderter führt beredt Klage über Zeit und Zustände der Gegenwart, ein Frauenchor steigert sich in physische Attacken auf die jeweils nebenstehende Person. Man sieht: Floreys „Melencolia“ deutet nicht nur Dürer aus, sondern bildet zugleich unmittelbare Gegenwart ab. Am Ende verwandeln sich die „Irren“ in Besucher einer Kunstausstellung – Botho Strauß’ „Trilogie des Wiedersehens“ wirkt als Zitat.

Die von Florey selbst inszenierte Aufführung dauert eineinhalb Stunden. Etwas zu lang, um eine gewisse Klischeehaftigkeit speziell der Irrenanstaltszenen zu überspielen. Aber insgesamt ist eine sehr dichte, atmosphärisch eindringliche und in den Aktionen auch präzise Inszenierung entstanden, die Äußerungsformen der Melancholie plastisch abbildete, die psychischen Verwerfungen und Beschädigungen der Menschen in unserer Welt eindringlich aufzeigt. Floreys Musik setzt in die Text– und Spielstruktur fast übervorsichtig erweiternde Ausdrucksakzente, so, als fürchte er sich, durch eine zu große musikalische Expansion in die Nähe einer „Oper“ zu geraten. Floreys Klangmittel verstärken und intensivieren jedoch die szenischen Vorgänge auf eindrucksvolle Weise.                 



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