Im Verzerrspiegelraum
(2008)
Das Gefühl, es explodiert einem der Kopf, das Gefühl, die Schädeldecke
müßte eigentlich zerreißen, abplatzen.
Das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Hirn gepreßt.
Das Gefühl, innerlich auszubrennen, rasende Aggressivität, für die es
kein Ventil gibt.
Das Gefühl, sich in einem Verzerrspiegelraum zu befinden.
  
Ulrike Meinhof am 231. Tag ihrer Haft in der Strafanstalt Köln-Ossendorf


Notizen zur Aufführung

„Im Zerrspiegelraum“ ist nicht zuletzt eine szenische Aktion. Das Stück bedarf also einer „Inszenierung“.

Die 1. Szene Preludio, der Prolog, ist auswendig vorzutragen. Die vorgegeben bzw. vorgeschlagenen Bewegungen des Instruments wollen nicht  auf ein musikalisches „Rühren“ mit dem Instrument hinaus, sondern gewünscht ist die Imagination eines existentiellen Kampfes mit einer Riesenschlange. Die Bewegungen sind mit dem ganzen Körper zu führen, ohne die Füße dabei vom Boden zu heben. Standfestigkeit ist gefragt. NON ART REALITY – diese Worte sind der Verzweiflung eines Todeskampfes entrissen und verlangen einen exstatischen Ausdruck jenseits aller Zurückhaltung. Insgesamt sollte dieser Prolog von großer zeitlicher Dichte sein, also: kein Ausruhen, keine Ermüdung, sondern stetes Getriebensein und Gehetztwerden. Erst mit dem sub.p  soll Entkräftung spürbar werden und das abschließende morendo sollte zu einem wirklich Stillstand führen, der über die Dauer des lange gehaltenen Schlußtons hinaus mindestens noch 5“ gehalten werden sollte.

Die 2. Szene könnte aus gänzlich anderer Position gespielt werden, abgewandt vom Publikum, äußerst verhalten, ein Bedenken, eine persönliche Anmerkung. Der melodische Verlauf drückt Fragilität aus, Unsicherheit und Einsamkeit.
Die Verwandlung zur 3. Szene sollte vollkommen überraschend sein.  Ohne jede sichtbare Vorbereitung. Dabei muß  es dem Spieler gelingen, unbemerkt vom Publikum, zumindest eine Clownsnase aufzusetzen. Die Spielbewegungen und das gestische Material sollten dem Auftritt eines Zirkusclowns erkennbar nachempfunden sein. Ein Spiel mit einem imaginären Partner wäre denkbar. In den rhythmisierten Glissandofiguren ist auf ihren quasi parlando - Charakter zu achten. Der Spieler sollte nicht von der Erwartung ausgehen, daß seine „Nummer“ tatsächlich als komisch empfunden werden könnte. Er soll diese Szene so gestalten, daß man als Zuschauer bzw. Zuhörer mit aller Deutlichkeit etwas vorgeführt bekommt, das als „komische Nummer“ einstudiert und vorgetragen ist. Das setzt  alles andere als Improvisation voraus, sondern einen konsistenten und strengen Formalismus aller szenischen Aktion.

Bei der 4. Szene handelt es sich um eine Art „Geländeübung“. Die 4 x 2 Segmente des Notenblatts sind auf der Bühne an vier verschiedenen Orten positioniert. Zu Beginn wird der jeweilige Notentext in aller Ruhe entziffert. Der Weg von einer Spielposition zur anderen wird in aller Ruhe zurückgelegt, aber nicht suchend, sondern zielsicher und bewußt. Nach dem ersten Durchgang ist  das Tempo zu beschleunigen. Im Spielverlauf muß der Parcours in sich stets verknappender Zeit zurückgelegt werden. Schließlich schmilzt der musikalische Verlauf, ebenso wie der Bewegungsablauf, auf eine einzige musikalisch-tänzerische Sequenz zusammen, die den Ausgangspunkt der Aktion zwar noch erkennen läßt, aber doch zu einer neuen,  eigenständigen Form geführt hat, die „gekonnt“ wirkt, obwohl sie dem eigentlich vorgegebenen Text  nur noch vage entspricht. 

Nach den ersten Einleitungstakten der 5. Szene wird eine Stoppuhr in Gang gesetzt. Es empfiehlt sich eine Laborstoppuhr, oder ähnliches zu verwenden. Wichtig ist die Uhr nicht nur als visueller Zeichengeber, sondern auch als Mittel akustischer Irritation. Es geht um die Darstellung einer zeitlich präzis organisierten und sehr komplexen Aktion. Es muß spannend sein wie ein Krimi! Alle quasi parlando  Stellen sind mit Emotion zu füllen: Aggression und Angst, Mut und Resignation sollen spürbar werden. Und dagegen gesetzt: die zur Schau gestellte überlegene Geschicklichkeit des Akteurs. Am Ende bleibt nur noch das Ticken der „Zeitbombe“ . Das Ende dieses Satzes muß mit einem klaren Zeichen (z.B. einem black out) verbunden sein.

Das Licht für die 6. Szene sollte den Spieler auf einen minimalen Radius beschränken und ein einzelner Scheinwerfer (Verfolger) auf nur 30% Helligkeit gezogen sein. An dem Spielort dieser Szene sollte eine ausreichende Menge einer Stoffbahn gelagert sein, die dem Spieler dazu dienen kann, sein Instrument zu stopfen. Dieses Dämpfen des Instruments ist eine szenisch panische Aktion, die erkennen lassen muß, daß das Instrument zum Schweigen gebracht werden soll. Die Melodie plaudert etwas aus, das niemand erfahren darf. Es ist ein Kampf mit dem eigenen Ich. Krasse Wechsel von völliger Niedergeschlagenheit und Ausbrüchen von aggressiv autistischem Selbsthaß.  Wenn kein geeigneter Boden für ein kreischendes Geschiebe des Stuhles zur Verfügung steht, so muß hier eine Alternative gefunden werden. Das  abschließende Summsingen durchs Instrument ohne jedenAnflug von Sentimentalität, kein riterdando

Mit der 7. Szene wird die Spielfläche zwar geweitet, aber dennoch vom Licht eng und hart begrenzt. Den neun akustischen Aktionen sollen neun verschiedene Haltungen (nicht unbedingt auch Positionswechsel) entsprechen. Zum Ausdruck kommen soll ein tötendes Gleichmaß von immer denselben Sinneseindrücken. Das ma energico bezieht sich auf die unausweichliche Energie der Wiederholung. Das Andante mag man, wenn man will, wörtlich nehmen. Für diese Szene ist entscheidend, die richtige Dauer zu finden. Sie muß gerade so lang sein, daß man beginnt zu spüren, welche Zerstörungskraft die Wiederholung des Immergleichen besitzt.

Die 8. Szene schließt in gewisser Weise an die 1. Szene. Es ist durchaus im Sinne des Autors, wenn man sie als Epilog betrachtet. Die schließlich tatsächlich gesprochenen Worte sind zu sprechen, als handele es sich um ein Selbstgespräch. Das cantando   darf von keinem Ausdruck  beseelt sein. Jeder emotionale Ausdruck ist zu vermeiden. Der letzte ad libitum Wiederholungstakt dient dem Abgang des Spielers, oder dem langsamen Einziehen des Bühnenlichts.

im Februar 2008




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