Vom Singen und Klingen

Bemerkungen über
die Musik zu Horvath’s
„Geschichten
aus dem Wienerwald“
Daß Horváth in diesem Stück konkret Musikalisches in’s Spiel bringt, erfüllt natürlich absichtsvoll die mit dem Titel geweckte Erwartung. Tatsächlich fügt sich das, was der Dichter dem theatralischen Geschehen musikalisch vorschreibt, zu einer Programmfolge, die so abgeschmackt ist, daß sie das platteste Klischee eines weinseligen Operetten–Österreichs abgeben könnte. Natürlich erklingt der berühmte Walzer mit dem Titel „Geschichten aus dem Wiener Wald“, und ebenso versteht sich, daß, wenn schon die schöne blaue Donau in der Nähe fließt (wie es in den szenischen Anweisungen heißt), auch dieser Walzer erklingt. Hinzu kommt noch der „Frühlingsstimmenwalzer“, das Lied vom „Wienerblut“  und das „Ach-nur-auf-die-Schulter-geküßt“. Es fehlen auch nicht die bekanntesten Wienerlieder.
Es macht aber der Ton die Musik – und nicht umgekehrt. Was soviel meint wie: es kommt beileibe nicht nur auf das „Was“ an, sondern auf das „Wie“. Man kann, wenn man nur mutig genug ist, und vor einer Vereinfachung nicht zurückschreckt, dieses geflügelte Wort für einen ganz entscheidenden Leitsatz Horváthscher Sprachauffassung nehmen. Sprache ist den Menschen weniger ein Verständigungsmittel als vielmehr Ursache von selten folgenlosen Mißverstehens. Sie ist nicht Ausdrucksmittel des Bewußtseins, sondern sie ist seine große Verräterin. Niemals  ist hier der Mensch Herr seiner Sprache, sondern sie ist es, die ihn beherrscht. Und dieses weniger durch das Was des Gesagten, sondern eben das ganz unwillkürliche, bloß reflexive unbedachte Wie.

Wie die Sprache, so die Musik
Die Töne, die uns den Musiktiteln nach einen ganzen Strauß von Walzern versprochen haben, kommen von einem schäbig verstimmten Klavier, das eine frühentwickelte dreizehnjährige Realschülerin traktiert, deren Lebensalter nicht nur dem Abergläubigen, sondern auch demjenigen, der um Horváths Vorliebe für Zahlensymbolik weiß, durchaus nichts Gutes verheißen will. Diese –der szenischen Anweisung folgend- doch recht stümperhaft vorgetragene Musik begleitet des Auftritt eines von der Ausübung seines Handwerks noch ganz blutverschmierten Fleischhauergehilfen, der einem kleinen Mädchen, das seiner Blutwurst nicht den nötigen Respekt erwiesen hat, die Gurgel durchschneiden will. Den zweiten Walzer stimmt die Dreizehnjährige an, wenn der nämliche Fleischhauergehilfe sich der schönen Beerdigung seiner Meisterin erinnert. Und zum dritten Mal greift sie in die Tasten, wenn der Zauberkönig und sein Schwiegersohn in spe sich zur Totenmesse rüsten. So könnte man fortfahren .....
Wenn Musik in der Szene erklingt, so ist sie verbunden mit Verwesung, Sterben und Tod. Ob nun das Koffergrammophon Puccini vernichtet, oder den Walzer von der schönen, blauen Donau zu Schanden kratzt: auch von den Wienerliedern bleibt nichts anderes zu erwarten, als der ihnen ohnehin naheliegende Gedanke ans Jenseitige. Und Horváth war so zivilisiert, daß ihm, nichts Gutes für das Land fürchtend, schon 1931 das Deutschlandlied genügend Leichengeruch zu verströmen schien, um es an dieser Stelle einzufügen. Die szenischen  Musiken sind in dem Wie ihres Erklingens also durchaus auf einer recht realistischen Ebene  in die Handlung eingebunden. Aber auch mit ihrem Was ist die Musik fester Bestandteil des Stückes und liefert neben den konkreten Liedtexten noch akutisch bildhafte Anstöße, die den Dialog assoziativ befördern.

Die Musik der Sphären
Nun gibt es aber noch einen anderen wichtigen musikalischen Schauplatz, der eher sphärischer Natur ist. Schon in der ersten Regieanweisung heißt es: „In der Luft ist ein Klingen und Singen – als verklänge irgendwo immer wieder der Walzer „Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Johann Strauß.“ Was hier gemeint ist, erklärt gegen Ende des Stücks die Trafikantin Valerie einem penionierten Rittmeister den k.u.k. Armee folgendermaßen: „Wenn einer knapp vor dem Tod ist, dann fängt die arme Seel  bereits an den Körper zu verlassen – aber nur die halbe Seel -  und fliegt dann  schon hoch hionauf und immer höher und dort oben gibt’s eine sonderbare Melodie, das ist die Musik der Sphären.“  - Den Moribunden ist es also gegeben diese himmlische Musik zu hören. Und eben von solchen Menschen erzählen die „Geschichten aus dem Wiener Wald“, solchen, die entweder aus reinem Zufall noch nicht gestorben sind, oder jenen, die nichts anderes im Kopf haben als ihrem unausweichlichen Schicksal schnell näher zu kommen; kurz gesagt: von Menschen wie du und ich. In diesem Sinn darf man verstehen, warum Horváth seine Dichtung ein „Volksstück“ genannt hat. So liegt es nahe, dieses „Klingen und Singen“ nicht nur auf den Anfang und das Ende des Stücks zu beziehen; denn es resultiert aus dem Grundgedanken des Werkes als einem theatralisch-musikalischen Totentanz. Die musikalisch-harmonischen Flächen möchten über einen theatralisch-rahmenden Klang helfen, den Blick guckkastenhaft (oder wenn man will: filmisch) zu konzentrieren auf Menschen, deren einzig unleugbare Verheißung (nicht nur allgemein, sondern auch historisch konkret) der Tod ist. Dieser Tatsache sich aber allgemein und konkret bewußt zu sein, und ihr sich nicht schicksalhaft blind ausgeliefert zu denken, wie die Horváth’schen Theaterfiguren, wäre der erste Schritt hin zu einer Sozietät der Menschen, die den Wert des menschlichen Lebens und seine schöpferischen Fähigkeiten als höchstes Gut achtete. Diesen Weg auch in finsteren Zeiten zu erhellen ist nicht nur allgemein Aufgabe der Kunst, also auch der Musik, sondern konkret Aufgabe der Künstler in der jeweiligen zeit, in die sie gestellt sind.


Wolfgang Florey (1997)



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