Fortsein ist auch ein Sein,
nicht nichts
(2020)
Rolf Hochhuth
1

Strand

Nacht – jetzt schweigt sogar der Wind,
die Flut ist zurückgewichen.
Alle, die mir wichtig sind:
Menschen, Fragen – ausgestrichen
Hat sie, wie mich,
die Gleichgültigkeit,
mit der das Meer
Muscheln, Teer
• und sich
ausspeit.

2

Schwarze Segel

Wer ahnt,
der die Taue loswirft
im Frühlicht,
das emaillekalt glänzt,
wie er nach Haus kommt?

Noch auf dem Weg zum Hafen
hält seine Hand die des Kindes:
um ihn ist noch, der ihn trug,
den er trug in der Nacht:
der vertraute Leib seiner Frau ...

Doch wer ahnt,
wenn er ausfährt, verlockt von Geschäften,
an bedrohliche Ufer, dass sein Segel,
jetzt prahlend weiß sich brüstend
im pfauenfarbenen Meer

Schon zur Nacht
achterdecks liegt, leichenlaken-fahl,
und er heimgefahren wird
die Füße voran
unter schwarzem Segel?

3

Kielwasser

Panik – existentielle:
Am Heck sehen, wie Schraubenschaum,
wie Welle nach Welle,
Gischt, Wolken wegwehen aus Zeit, aus Raum!
So aus dem Gedächtnis auch weg wie Wellen
wir Menschen, die mit ihnen eins:
Dem jetzt blautanne-hellen
Abbild des Seins.

4

Spanische Treppe

Kaskadengischt auf lichten Aquarellen:
drei Sturz-Seen aus Gestein, das schwimmt,
sanft abfällt dann in zwölf Zwölfstufenwellen.
Darauf vier Rassen; Weiße »weiß« wie Zimt.

Bleib’ Wolke vor der Sonne, dass die Stufen
von Glut befreit sind und von Wind liebkost.
Via Condotti weht ihn her; mich Alten rufen,
närrisch im grünen Hemd, ja kurzbehost

Gier, Todesangst zur Treppe, die Atem sprüht:
die Treppe lebt, ein Leib, den Jugend nimmt.
Verblühte sehen – weg. Wer nicht ganz abgebrüht,
der lernt hier leidend, wie für ihn verglimmt


Was »Lebensfeuer« hieß – da die Jungen
ihn nicht einmal mehr ignorieren ...
Entzieht sich Schönheit dem, den sie bezwungen,
läßt sie – reis ab! – sein Herz gefrieren.

5

Tempel

Äcker, fast fruchtlos, der Pflug
lockert nur mühsam sie auf.
Kain Haus, weder Straße noch Grabmal
sind geblieben – ein Tempel allein,
dem mit den Betern auch Gott starb,
behaust nur von Sandwind,
bezeichnet die Stadt noch:

Segesta

Geh weiter auch du – eh’ sie dich
ansteckt, die Schwermut:
sie brütet auf entleerten Altären.
Wo Markt war, Theater, City, Verkehr,
sind Dünen. Wo Menschen lebten,
ist – nichts. Oder du – momentan;
auch so lange nur wie dein Schatten.

6

Iris

Iris schattenernstes Blau,
Strahl der Nacht in buntem Strauß,
ihre Tiefe, naß von Tau,
leuchtet, lockt wie nur die Blaus

Abendkühler Wälder, Meere ...
Doch wenn sie, schon nach zwei Tagen,
blaugelb hinwest, wie erwehre
ich mich dann verdrängter Fragen

Die ihr bleu mourant erweckt.
Wenn ihr Blau verbleicht, wie gleichen
(Bilder, die kein Grab verdeckt)
ihre Blätter dann dem Leichen-

Blau, das Gesichter, die wir küssten,
und das Hände, die uns hielten,
stempelblau stigmatisiert.
Sterbende ... wenn wir nur wüssten

Wohin letzte Blicke zielten:
ob, wer uns stirbt, auch die Seinen,
denen er wegstirbt, verliert.
Weil doch Sterbende nie weinen.

Der Komponist erzählt:

An einem Tag im Mai 20 fragte ich aus Gewohnheit meine Buchhändlerin wie es ihr so ginge. „Schlecht“, antwortete sie. Ob sie erkältet sei, wollte ich wissen. „Nein,“ sagte sie lakonisch, „mein Mann ist vor zwei Tagen gestorben“. Etwas verlegen suchte ich nach passenden Worten, um ihr mein Beileid auszusprechen. Da gesteht sie mir, dass ihr Mann Rolf Hochhuth gewesen wäre, ein Umstand, den sie selbst ihren Stammkunden gegenüber geflissentlich verschwiegen habe. Sie hätte aber das Gefühl, mir das jetzt doch sagen zu müssen. Dabei drückte sie mir einen kleinen Band mit Gedichten von Rolf Hochhuth in die Hand.
Ich hatte bis dahin keine Ahnung, dass dieser Dramatiker auch Gedichte geschrieben hatte.
Für Johanna Binger, meine Berliner Buchhändlerin, habe ich einige Gedichte aus diesem Band ausgewählt und für sie in Töne gesetzt.
Riccardo Held



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